Der Traum by Emile Zola

Der Traum by Emile Zola

Autor:Emile Zola [Zola, Emile]
Format: mobi
Tags: Roman
Herausgeber: TUX
veröffentlicht: 2010-02-22T23:00:00+00:00


Kapitel VIII

Als Angélique am nächsten Tag nach acht Stunden Schlaf erwachte, nach einem sanften und tiefen Schlaf, der ausruhen läßt von großer Glückseligkeit, lief sie an ihr Fenster. Der Himmel war sehr klar, das warme Wetter hielt an nach dem schweren Gewitter, das sie am Abend zuvor beunruhigt hatte; und fröhlich rief sie Hubert zu, der gerade unter ihr die Fenster öffnete:

»Vater, Vater! Seht doch die Sonne! – Ach, wie ich mich freue, das wird schön werden bei der Prozession!«

Rasch kleidete sie sich an und ging hinunter. An diesem Tag, dem 28. Juli, sollte die Wunderprozession durch die Straßen von Beaumont ziehen. Und alljährlich ließen die Sticker an diesem Tag die Arbeit ruhen: sie rührten keine Nadel an, sie brachten den Tag damit zu, die Wohnung nach althergebrachter Weise zu schmücken, die sich seit vierhundert Jahren von der Mutter auf die Tochter vererbte.

Während Angélique schleunigst ihren Milchkaffee trank, beschäftigte sie sich schon mit den Wandbehängen.

»Mutter, man müßte eigentlich nachsehen, ob sie auch noch gut instand sind.«

»Wir haben Zeit«, erwiderte Hubertine mit ihrer sanften Stimme. »Vor dem Mittag werden wir sie nicht aufhängen.«

Es handelte sich um drei wunderbare Stoffbahnen mit alten Stickereien, die die Huberts wie ein Familienheiligtum ehrfürchtig aufbewahrten und die sie einmal im Jahr, an dem Tage, da die Prozession vorüberzog, hervorholten. Schon am Vorabend war der Zeremoniar102, der gute Abbé Cornille, der Sitte gemäß von Tür zu Tür gegangen, die Einwohner zu unterrichten, welchen Weg die Statue der heiligen Agnes, die der Bischof mit dem Allerheiligsten begleitete, nehmen würde. Seit mehr als vier Jahrhunderten war dies immer derselbe Weg: Die Prozession verließ die Kirche durch das SanktAgnesTor und zog die Rue des Orfèvres, die Grand˜Rue, die Rue Basse entlang; nachdem sie durch die neue Stadt gezogen war, erreichte sie wieder die Rue Magloire und den Place du Cloître, um durch das Hauptportal wieder in die Kathedrale Einzug zu halten. Und die Bewohner dieser Straßen wetteiferten miteinander, schmückten die Fenster mit Wimpeln, bespannten die Wände mit ihren kostbarsten Stoffen, übersäten das Kopfsteinpflaster mit Rosenblättern.

Angélique gab erst Ruhe, als man ihr erlaubt hatte, die drei gestickten Bahnen aus der Schublade zu holen, in der sie das ganze Jahr über schliefen.

»Es ist ihnen nichts, gar nichts geschehen«, murmelte sie entzückt.

Als sie sorgfältig das schützende Seidenpapier abgenommen hatte, kamen die Stickereien zum Vorschein, alle drei der Jungfrau Maria geweiht: wie sie die Verkündigung vernimmt, wie sie am Fuße des Kreuzes weint, wie sie zum Himmel auffährt. Sie stammten aus dem fünfzehnten Jahrhundert, waren mit schattierter Seide auf Goldgrund ausgeführt und wunderbar erhalten; und die Stickerfamilie, die große Geldangebote ausgeschlagen hatte, war sehr stolz auf diese Pracht.

»Mutter, aber ich möchte sie aufhängen!«

Das machte viele Umstände. Hubert verbrachte den ganzen Vormittag damit, die alte Hausfront zu reinigen. Er band einen Besen an das Ende eines Stockes, er staubte das mit Klinkern geschmückte Holzfachwerk bis zum Gebälk des Dachstuhls ab; dann wusch er mit dem Schwamm den steinernen Unterbau ebenso wie alle Teile des Treppentürmchens, die er erreichen konnte. Und die drei gestickten Bahnen kamen dann an ihren Platz.



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